Forschungsdiskussion
Fast die gesamte deutsche Politik in der Weimarer Republik und auch nahezu geschlossen die damalige deutsche Historikerzunft versuchte den Vorwurf der deutschen Kriegsschuld (festgeschrieben im Paragrafen 231 des Versailler Friedensvertrages) zu entkräften. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich hingegen politisch und wissenschaftlich die Ansicht Bahn zu brechen, dass alle Nationen gewissermaßen in den Krieg „hineingeschlittert“ seien, mehr oder weniger Schuld trügen und man daher von einer Alleinschuld Deutschlands nicht mehr sprechen könne. Insbesondere konservative Historiker wie beispielsweise Gerhard Ritter, die sich in offenkundiger Opposition zum Nationalsozialismus befunden hatten, versuchten zumindest die Geschichte des Kaiserreiches anschlussfähig für die Bundesrepublik zu machen.
Diese „Ruhe“ wurde durch die Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer („Griff nach der Weltmacht“, 1961) nachhaltig gestört. Fischer vertrat, nach einem eingehenden Studium bis dahin zum Teil nicht bekannter oder ausgewerteter Akten, die These, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg bewusst herbeigeführt, einen Eroberungskrieg geplant und eine deutsche „Weltmachtstellung“ angestrebt habe. Seine Thesen führten nicht nur zu einer wissenschaftlichen Diskussion, sondern auch zu erheblichen politischen Kontroversen. In Deutschland wurden sie zum Teil massiv bekämpft.
Mit der bis fast in die Gegenwart andauernden „Fischer-Kontroverse“ begann in der ganzen Welt jedoch eine erneute und vertiefte Forschung über die generellen Ursachen des Ersten Weltkriegs, der „Jahrhundertkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Dabei wurden nun auch neben diplomatiegeschichtlichen und militärischen Aspekten soziale, ökonomische und kulturelle Ursachen stärker in den Blickpunkt genommen.
Die Urteile über den Kriegsausbruch und die Kriegsschuld werden gegenwärtig differenzierter gefällt und sind nicht mehr in dem Maße wie noch in den 1920er-Jahren durch politische Implikationen (mit)bestimmt. Die Urteile reichen aber immer noch von der besonderen Schuld Deutschlands bis hin zu einer gemeinsamen Schuld aller Beteiligten. Die Thesen Fritz Fischers wurden von vielen Historiker_innen dahingehend modifiziert, dass Deutschland zwar nicht die alleinige Schuld am Krieg trage, aber durch seine Risikopolitik maßgeblich verantwortlich war.
Nachdem der 90. Jahrestag des Kriegsbeginns (2004) weitgehend klanglos verging, war das große öffentliche Interesse an diesem Thema zum 100. Jahrestag überraschend. Unter den wissenschaftlichen Arbeiten war es Christopher Clarks „Schlafwandler“ (2013), die auf eine unerwartet große Resonanz stieß. Indirekt gegen Fritz Fischer gerichtet, beruht Clarks Arbeit auf einer Neubewertung der deutschen Vorkriegspolitik, die er nicht als so bedrohlich ansieht, wie vielfach angenommen. Clarks Anspruch ist es, eine „europäisierte“ Geschichte des Kriegsausbruchs zu schreiben, die nicht nachträglich Schuldzuweisungen verteilt. Andere Historiker_innen kritisieren Clark, dass er damit auf die Frage nach Ursachen und Folgen verzichte.
Als wissenschaftlich bedeutsam gilt Jörn Leonhards Arbeit „Die Büchse der Pandora“ (2014), deren Hauptthema die vom Krieg entfesselten Kräfte sind, ein Krieg, den letztlich alle verloren hätten. Zu den mit großer Aufmerksamkeit bedachten Publikationen gehört auch Herfried Münklers politologische Analyse „Der große Krieg“(2013), der an Clark anknüpft und den Ersten Weltkrieg als Lehrstück der Politik betrachtet und, unüblich in der Geschichtswissenschaft, anhand von Fehlurteilen und Fehleinschätzungen Empfehlungen gibt, „was man hätte tun sollen“.
Literatur
Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013 (englisch 2012).
Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961.
Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014.
Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013.
Zum Stand der Diskussion, insbesondere der „Fischer-Kontroverse“, zusammenfassend:
Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005.
Zur Kritik an Christopher Clark:
Annika Mombauer, Julikrise und Kriegsschuld – Thesen und Stand der Forschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. 64. Jahrgang, 16 – 17/2014, S. 10–16, Online unter: http://www.bpb.de/apuz/182558/julikrise-und-kriegsschuld-thesen-und-stand-der-forschung
Zu den Publikationen des Gedenkjahres:
Roger Chickering, Deutschland im Ersten Weltkrieg. Betrachtungen zur Historiografie des Gedenkjahres, in: Archiv für Sozialgeschichte, 2015.